Business Coach, Silvia Chytil

In meiner Schulzeit lernte ich Italienisch. Leider nie so intensiv und mit ausreichend Liebe, dass ich es mit Leib und Seele aufnehmen konnte, aber doch genug, um die Sprache und vor allem den Klang zu lieben. Auch gibt es einige Phrasen, die bei mir hängen geblieben sind. Etwa das sehr bekannte „Dolce far niente.“ Das süße Nichts-Tun. Was geradezu ein Affront für all die leistungsbezogenen, westlichen Länder ist. Nichts-Tun geht gar nicht. Wir müssen immer beschäftigt sein, sonst sind wir nichts wert und erreichen nichts.

Eine weitere wunderschöne Phrase ist: l’arte d‘arrangiarsi. Die Kunst, aus Nichts Etwas zu erschaffen. From Nothing to Something. Das kann ein Festmahl für Freunde sein, das aus ein paar Lebensmittel zubereitet wurde, die von der Woche übergeblieben sind. Oder einen leeren Raum mit kunstvollen Gegenständen dekorieren. Oder eine leere Seite mit einer lebendigen Geschichte füllen. Und natürlich auch in deinem Business, Produkte und Dienstleistungen zu erschaffen.

Von Nichts zu Etwas. Das ist jede Reise, die ein Projekt, ganz gleich wie groß oder klein es auch sein mag, zu durchqueren hat. Wir beginnen bei null. Manchmal nicht mal eine Idee, denn sogar die ist schon etwas, nämlich ein Gedanke. Noch davor, noch davor, wenn gar nichts da ist, sondern nur Leere. Oder, wie es ein Kurs-Teilnehmer von mir betonte – reines Potenzial. Wenn noch gar nichts da ist, dann ist alles möglich. Einfach alles. Wie wunderbar.

Etwas aus dem Nichts (dem Formlosen, der Leere, dem unendlichen Potenzial) entstehen zu lassen und in Etwas zu bringen, ist die schönste Arbeit, die wir Menschen verrichten können. Wir sind dafür geschaffen, eine neue Idee zu ersinnen und sie auch tatsächlich in die Tat umzusetzen. Sieh dich an dem Ort um, an dem du dich gerade befindest. Du siehst vielleicht einen Tisch, einen Sessel, ein Haus, einen Computer, vielleicht ein Auto, eine Lampe, eine Tasse, einen Block. Das alles sind Dinge, die diese Reise bereits hinter sich haben. Sie befanden sich im Nichts, in der Leere, bis ein Mensch dieses Nichts zuerst in eine Idee und dann in ein Ding umwandelte.

Dieser Prozess – von Nichts zu Etwas – ist Kreativität pur. Und wenn ich Kreativität sage, dann meine ich nicht die Bedeutung, die wir im deutschen Sprachgebrauch zumeist damit verbinden – das rein Künstlerische.

Kreativität ist für mich genau dieser Schaffensprozess, den wir durchlaufen, wenn wir etwas Neues in die Welt bringen. Im Englischen deutet es eher auf diese Bedeutung hin: creativity – to create something.

Kreativität ist uns angeboren

Die Fähigkeit, kreativ zu denken und zu handeln, ist uns angeboren. Beobachten wir kleine Kinder, merken wir, wie wenig sie in eingefahrenen Muster denken. „Spiel nicht mit dem Essen“ zeigt den Unterschied. Erwachsene sehen in Essen, Gabeln, Teller eine eindeutige Funktion und Ordnung. Kinder sind noch nicht darauf konditioniert. Mit Essen können sie alles Mögliche tun. Für sie bedeutet es nicht „spielen“, sondern sie lassen ihrer angeborenen Kreativität freien Lauf.

Befragt man Fünfjährige, ob sie sich als kreativ einschätzen, antworten 98 % mit „Ja“. Bei 10 – 12-Jährigen liegt die positive Antwort noch bei 50 %, während nur noch 2 % der Erwachsenen sich selbst als kreativ einschätzen. Was den Schluss nahelegen würde, dass Kreativität im Alter abnimmt. Diese Schlussfolgerung stimmt jedoch nicht.

Unsere Kreativität können wir nicht verlieren. Was wir allerdings verlieren können, ist Kreativität zu erkennen und diese für uns zu nutzen.

Wir haben verlernt, in Möglichkeiten zu denken und uns im Nicht-Wissen wohlzufühlen.

Fehler sind ein MUSS

Nicht-Wissen wurde in der Schule schwer bestraft. Wussten wir bei Prüfungen die korrekte Antwort nicht und ließen stattdessen unserer Kreativität freien Lauf, wurden wir nicht gelobt. Ganz im Gegenteil, es hagelte schlechte Noten. Uns wurde schnell beigebracht, dass Fehler und Nicht-Wissen Strafen zur Folge haben. Da wir zumeist Probleme vermeiden wollten, lernten wir, dass Fehler machen, verboten ist. Und das „Nichts“ und die Leere waren definitiv Fehler.

Babys lernen intuitiv, durch Nachahmung und vor allem mit der Bereitschaft ganz viele Fehler machen zu dürfen. Noch mehr. Sie müssen Fehler machen. Egal, ob sie am Hinterteil landen oder die „Wechstaben verbuchseln“. Sie lernen ausschließlich durch ihre Fehler, die sie beim Erlernen einer neuen Fertigkeit machen. Als Erwachsene finden wir das bei Babys entzückend und lieblich. In diesem Alter sind Fehler noch erlaubt. Aber irgendwann wendet sich das Blatt und Fehler werden zu einem Übel.

Leider! Denn damit berauben wir uns des größten Gutes, das wir haben: Unserer Lernfähigkeit und unserer Kreativität.

Diese beiden menschlichen Fähigkeiten sind fest miteinander verwoben. Kreativität ist Ausprobieren. Lernen. Fehler machen. Neu beginnen. Verwerfen. Wenn wir uns das nicht zugestehen, dann fristen wir ein sehr eintöniges und nervenaufreibendes Dasein.

Mit dem Nichts anfreunden

Was ist nun eigentlich das „Nichts“ und wie können wir uns damit anfreunden?

Die Leere, von der ich spreche, hat viele andere Namen: Potenzial, Raum, Freiraum, Unendlichkeit, Nichts. Im Englischen wird es auch oft „space“ genannt, was vielleicht die Unbegrenztheit am treffendsten ausdrückt.

Nur Leere stimmt natürlich auch nicht, denn es gibt im Universum keine Leere. Nur wir als Materie-fixierte, westliche Menschheit betrachten alles als leer, was nicht mit irgendeinem Ding vollgestopft ist. Wir sagen zu einem Raum, in dem keine Möbeln stehen, das ist ein leerer Raum. Weil es eben drinnen nichts gibt, was wir angreifen oder sehen können. Nur natürlich ist dieser Raum nicht leer, sondern er ist zum Beispiel mit Sauerstoff gefüllt, ohne den wir nicht leben könnten. Er ist so selbstverständlich für uns, dass wir ihn erst wahrnehmen, wenn er nicht mehr vorhanden ist.

Nicht nur, dass eigentlich alles aus „Leere“ besteht, hat diese Leere einen noch ganz anderen, sehr praktischen Wert.

Schau dir diese 2 Worte an:

K R E A T I V I T Ä T

KREATIVITÄT

Du wirst es vielleicht nicht erkennen, aber beide Mal steht dasselbe dort: Kreativität.
Was macht den Unterschied aus?
Genau: die Leere.

Beim ersten Wort ist zwischen den einzelnen Buchstaben ein ausreichend großer Leerraum, damit wir das Wort gut lesen können. Beim zweiten Wort nicht. Und schon ist es für uns nur mehr schwer entzifferbar, obwohl es dort steht.

Ohne Leere ist nichts da. Kein Wort, kein Platz, kein Raum. Denk nur an den vollen Sandstrand, wo ein Sonnenanbeter neben dem anderen liegt. Oder das Gedränge in einer überfüllten Bar. Wie sehr würden wir uns da Raum und Leere wünschen.

Die Leere, das Nichts, ist also der wichtigste Zustand, damit überhaupt irgendetwas entstehen kann. Haben wir einen vollen Kopf, voll mit Terminen und To-do-Listen, dann können keine neuen, frischen Gedanken und Ideen entstehen. Das ist der Grund, warum wir unsere besten Ideen unter der Dusche oder beim Spazieren gehen haben, weil wir dann keine unnötigen Gedanken mit uns herumtragen. Wir sind frei im Kopf, es entsteht eine innere Leere – und erst dann kann etwas Neues entstehen.

Eine kleine Zen-Geschichte

Ein Professor der Philosophie aus einem westlichen Land stammend, reiste einmal in ein fernes Land. Er traf spannende Menschen und Gelehrte. Er stellte sich viele Fragen. Fragen nach Meditation und Gott, nach dem Sinn des Lebens und der Unendlichkeit. Doch er fand keine Antworten. Eines Tages wanderte der Professor immer weiter hoch in die Berge. Plötzlich stand er vor dem einfachen Haus eines Zen-Meisters.

Dieser lud den westlichen Mann zu sich ein. Der Professor sprudelte nur so vor Fragen und Wissensdurst. Er zählte dem Meister seine akademischen Titel und klagte über seine Verzweiflung über all die nicht beantworteten Fragen im Leben.

Der Meister schwieg. Dann sagte er: „Ich mache dir einen Tee.“ Ungeduldig wartete der Professor, bis der Meister mit einer Tasse zurückkehrte. Tee trinken? Fragte sich der weit gereiste Gast insgeheim. Ich bin doch gekommen, um Antworten zu bekommen. Ob diese Reise wohl umsonst war? Gedanken schwirrten durch seinen Kopf und als er gerade aufstehen möchte, kehrte der Zen-Meister mit einer Kanne frisch aufgebrühten Tee und einer Tasse zurück. Eine Tasse Tee nach der langen Reise schadet ja nicht, bevor ich gehe, dachte sich der Professor und blieb.

Der alte Mann begann, einzuschenken. Der dampfende Tee erstürzte sich in die Tasse. Immer weiter. Immer weiter. Auch als die Tasse längst voll war und sich das heiße Getränke über den Rand auf die Untertasse ergoss, hörte er nicht auf zu gießen. Erschrocken sprang der Professor von seinem Stuhl vom Tisch weg. „Halt! Genug!“, rief er. „Die Tasse ist doch voll! Sehen Sie das nicht?“

Da hielt der Meister inne und schaute seinem Gast zum ersten Mal ins Gesicht. Seine faltigen Augen umspielte ein Lächeln. Plötzlich sah der Mann gar nicht mehr so gebrechlich aus. Weisheit und Lebenserfahrung strahlte jede Faser seines Körpers aus.

„Genauso wie mit dieser Tasse, ist es auch mit dir“, sprach der Meister ruhig. „Du bist vollgefüllt. Mit Fragen, mit Wissen, mit Vorurteilen. Wie kann ich dir da noch Antworten geben, wenn kein Platz mehr ist? Erst, wenn du deine Tasse leerst, hast du wieder Platz. Für Neues, für Einsichten, für Antworten.“

Wir Menschen neigen dazu uns mit Informationen, Tun, Denken und äußerlichen Reizen „voll“ zu machen. Wir nehmen uns nicht die Zeit für Stille und Leere.

Auch wenn Unternehmen sich von „etwas unternehmen“ ableitet, bedeutet es nicht, dass es nicht Zeiten der Ruhe geben darf, ja, letztlich geben muss.

Denn manchmal wissen wir einfach nicht, was als Nächstes zu tun ist und manchmal gibt es ganz einfach nichts zu tun. Die Kunst besteht darin, dich in diese Leere und in dieses Nichts hineinfallen zu lassen, damit du spürst, welches Etwas aus dir heraus möchte.

Alles Liebe

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2 Comments

  1. Katja 27. Feber 2022 at 9:24 - Reply

    Danke liebe Silvia, das sind so schöne und wichtige Hinweise, die du da in die Welt gibst!
    Die Geschichte mit dem Tee hatte ich schon fast vergessen. Sie ist soooo sinnbildlich für unsere Gesellschaft als Dichter und Denker.
    Und dann wundern wir uns, wenn uns oft nichts mehr einfällt, weil wir so vollgestopft sind, dass uns nix mehr im wahrsten Sinne des Wortes EINFALLEN kann.
    Liebe Grüße, Katja

    • Silvia Chytil, M.Sc. 27. Feber 2022 at 9:45 - Reply

      Liebe Katja,
      danke für deinen Kommentar!

      Ja, es ist wirklich faszinierend, was wir treiben 😀. Vor allem, wir machen uns so „voll“ und haben doch immer das Gefühl des Mangels. Und, wenn wir Leere zulassen, zeigt sich plötzlich die ganze Fülle 🧡.

      Alles Liebe
      Silvia

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